Meine erste Weitwandererfahrung hatte Spuren hinterlassen. Nach all den Jahren der inneren Unruhe und Rastlosigkeit, hatte ich ein tiefes Verständnis entwickelt dafür, wer ich bin. Was ICH brauche um wirklich glücklich sein zu können. Ich hatte 100 x darüber gelesen, dass ich selbst für mein Glück verantwortlich bin und vermutlich hätte ich es mir noch weitere 100 x herunterbeten können. Aber um Verantwortung für mich selbst übernehmen zu können, hatte ich ja erstmal verstehen müssen, dass ich diesen Freiraum brauche, diese offenen Türen um losgehen und auch wieder zurückkehren zu können zu meinen Lieben, ohne dass sie mich verurteilen würden dafür, dass ich weg war. Dass ich bei mir sein wollte und zwar nur bei und mit mir. Uneingeschränkte Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist. Selbstbestimmtheit leben zu können.
Ich wollte mehr von diesem „Weitwandern“. Schon oft hatte ich im Kopf die Alpen zu überqueren, konnte es mir aber aus unterschiedlichen Gründen nicht vorstellen. Das hatte sich geändert. Grundlegend. So begann ich mich einzulesen. Ich liebe die Zeit der Vorbereitungen. Gedanken und Ideen nehmen Gestalt an, setzen sich wie ein Puzzle zusammen, bereiten mir Freude und schwören mich ein, auf das was mich erwartet. Von Beginn an war mir klar, dass es unabdingbar ist vorher a) meine Kondition zu checken – von mir selbst und von einem erfahrenen Bergwanderführer und b) dass das Equipment in den Alpen eine besondere Rolle spielen würde. So plante ich eine Trainingswanderwoche in den Voralpen im Allgäu.
Dass meine erste Covidinfektion im Januar 2022 solch tiefe Spuren hinterlassen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Mitte Mai war ich physisch und auch mental weit davon entfernt in die Berge gehen zu können. Schweren Herzens, verbunden mit vielen Tränen stornierte ich die Ferienwohnung und den Bergführer. Ich versuchte mich „einzusammeln“ und beschloss auf meinen Herzensweg zurückzukehren. Der Weg, der mir so viel gegeben hatte und neue Pfade eröffnet hatte. 2 Wochen später ging ich los. Ich fuhr „zurück“ nach Wismar... Der E9 zieht sich hinter Wismar etwas ins Landesinnere zurück. Darauf hatte ich nicht sooo große Lust. Ich wollte Ostseeblick und Wasserkante. Auch nach inzwischen vielen Nächten in der Hängematte mag ich den tiefen dunklen Nachtwald noch nicht annehmen. So beschloss ich mit dem Schiff nach Poel überzusetzen und von dort aus zu starten, also an der Wasserkante runterzulaufen von der Insel hinüber zum Salzhaff. Nach nur wenigen Metern auf der Fähre entdecke ich am Ufer meine beiden Kastanien vom letzten Jahr. Bereits in diesem Moment hadere ich nicht mehr mit der Absage fürs Allgäu, sondern bin tief dankbar dafür, dass ich hierher zurückkommen konnte. Aufgeregt auf das was mich erwartet starte ich auf Poel. Mein erster Tag (und leider auch der kommende) ist davon geprägt, dass ich an Straßen entlanglaufen muss. Durch die Salzhaffwiesen führen keine Wege, ich muss sie weitläufig umgehen. Das kostet Strecke und Nerven. Ich nenne solche Etappen „Fleißetappen“. Irgendwann kann ich einbiegen in die Mecklenburger Felder. Über Feldwege laufe ich an einem nach dem anderen entlang. Alles rasend schön. Aber keine geeigneten Bäume für ein Nachlager.
Mit den Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr im Kopf, war ich losgelaufen mit Erwartungen. Auch mein Rucksack war wie im letzten Jahr viel zu schwer. Dazu meine schlechtere körperliche Fitness. Ich wollte partout bitte am Wasser übernachten. Aber nichts. Hätte ich Begleitung dabei gehabt, würde es ein Foto von der Situation geben, so wie von dem Rügenurlaub mit meinen Eltern als ich 6 Jahre alt war. Ich sitze mit meinen wilden Locken in der Hocke, das Gesicht auf die Hände gestützt neben den Schienen des rasenden Rolands und bocke – aber richtig. Ich wollte nicht mehr weitergehen. Ich fand Wandern doof. Meine Eltern erinnern mich by the way übrigens jedes einzelne Mal daran, wenn ich ihnen von meinen Wandergeschichten erzähle, dass sie nicht nachvollziehen können, dass ich es heute liebe zu Wandern. Also das Foto würde die 47jährige Antje zeigen, noch immer mit wilden Locken (der Ostseewind hatte die Haare durchgepustet den ganzen Tag lang) mitten auf einem Feldweg hockend, nicht bockig, aber verzweifelt weinend, weil völlig erschöpft. Ich hatte mir vorgenommen nicht mehr als 15 km zu gehen, maximal 17. Inzwischen war ich bei 19 und hatte keine Aussicht auf einen Schlafplatz. Aber das Weinen hatte geholfen, der Druck war etwas raus. Ich rappel mich auf und gehe weiter. 2km später sehe ich einen Bauernhof. Die alten Ställe ausgebaut zu Ferienwohnungen. Im Garten des Haupthauses sehe ich 2 Walnussbäume. In der Ferne kann ich die Ostsee erkennen, aber Wasserkante ist das nicht. Dennoch, ich kann nicht mehr und so klingel ich. Wenig später schaut aus dem Dachfenster ein freundliches Gesicht. „Sie komme runter!“ ruft sie mir zu. Ich berichte ihr von meiner Lage und sie erzählt mir, dass „die Kinder“ früher immer die Hängematte zwischen den Walnussbäumen aufgehängt haben. Ob sie mir die mal zeigen soll? Ich nicke wissend und ein großes Lächeln macht sich auf meinem Gesicht brei. Sie überlässt mir ihren zauberhaften Garten für die Nacht. Ich darf die Sitzgarnitur nutzen, sie holt mir 2 Flaschen Wasser (gekühlt und mit Sprudel – perfekt), zeigt mir die Gästetoilette im Haus und als es später am Abend kühler wird, schließt sie den Gartenpavillion auf und bietet mir an auch dort schlafen zu können. Die Behnkes sind eine Mecklenburger Bauersfamilie, vorrangig Getreide und Raps bauen sie an. In einem langen Gespräch mit „ihm“ als er vom Feld zurückkommt, erfahre ich alles, also wirklich alles über Rapsanbau bis hin zur Rapssamenmafia. Sicher überrascht es Euch nicht, wenn ich erzähle, dass sie mir morgens sogar noch Kaffee angeboten haben. Aber den mache ich mir selbst und packe nach einer wirklich sehr kalten ersten Nacht auf dieser Tour zusammen. Noch lange stehen wir an ihrem Haus und sie fragen mich Löcher in den Bauch. Ein wenig habe ich das Gefühl, dass sie besorgt sind.
Ich ziehe los, weiter an der Straße entlang, später direkt an der Wasserkante des Salzhaffs – Wanderweg würde ich das nicht bezeichnen, aber nun gut. Fleißetappe eben. Ich komme an San Pepelone vorbei, ein Ferien-/Campingpark mit einer hervorragenden Beachbar und einer Surfschule. Unter Ostseekiefern verstreut stehen hier Bungalows, ich erkenne ihre Vergangenheit, in der Gartenkolonie meiner Eltern im Brandenburgischen stehen die gleichen. Ich mag den Vibe hier und mache eine ausgedehnte Mittagspause in der Beachbar mit Blick auf das flache Haff. Vorbei an Feldern und Straßen wandere ich weiter und beginne meine Suche nach einem Nachtplatz. Als ich einen Pavillion sehe, zwar direkt am Weg aber dafür auch direkt am Strand halte ich an und nehme was ich bekommen kann. Ich warte lange bis ich meine Hängematte aufbaue. Ab 21:30 Uhr habe ich den Strand für mich allein. Am Vorabend war ich so ko, dass ich nicht mal mehr was zu essen zubereiten wollte. Heute jedoch genieße ich diesen wunderschönen Platz und brate in meiner Pfanne – ja, ich habe sie wieder mit im Gepäck – ein Bannock. Das „Bannock“ hat seine Wurzeln in Schottland, ist aber gleichzeitig ein klassisches Essen der amerikanischen Inuits. Es besteht auf Mehl, Salz, (Backpulver) und Wasser. Es ist hervorragend geeignet als Trekkingessen, denn man kann die trockenen Zutaten zuhause zusammen in einer Tüte vermengen. Unterwegs gibt man noch etwas Wasser dazu und kann die Tüte im Anschluss von außen kneten, um einen Teig herzustellen. Ich liebe diese Brotfladen, frisch und warm aus der Pfanne direkt in meinen Mund. Seit meinem Start trage ich einen Camembert in meinem Rucksack, der nun die perfekte Reife hat ;-) Nach dem Bannock brate ich in der Pfanne noch ein paar Weintrauben und bin mir sicher, dass es eines der besten Unterwegsessen ist, welches ich je zubereitet habe. Als dann noch der Himmel explodiert und sich das Abendrot zu einem Gruß Neptuns formt bin ich glücklichst und zufrieden.
In der Nacht soll es sich bewölken, auch der Wind soll auffrischen. So richte ich meine Hängematte entsprechend im Pavillon aus und gehe schlafen. Der Wind dreht im Verlauf der Nacht, ich nehme es wahr. Durch meinen Underquilt bin ich perfekt geschützt und meine Schlafsack-Kuscheldeckenkombi funktioniert auch hervorragend. Als es jedoch anfängt zu regnen, werde ich wach. Es regnet direkt hinein in den Pavillon und somit auch in meine Hängematte. Ich sprinte aus der Matte heraus und rette mein Setup. Nachdem ich alles sortiert habe, mache ich mir im Schutz des Pavillons in Ruhe Frühstück und als es aufhört zu regnen, gehe ich los.
Ich ziehe durch Rerik und steuere Kühlungsborn an. Auf einem Campingplatz mache ich Mittagsrast. Er ist etwas erhöht, man kann den kommenden Küstenabschnitt gut überblicken. Bereits von weitem wird mir klar, dass die Schlafplatzsuche sich auch heute schwierig gestalten wird. Eigentlich wollte ich vor Kühlungsborn Halt machen. Aber ich gehe weiter, komplett durch den langgestreckten Ort und hinter ihm zurück auf den Strand. Schon wieder entwickelt sich meine Suche zu einem Kampf. Aber eher mit mir selbst und meinen Vorstellungen. Ich möchte gern an der direkten Ostseeuferkante bleiben. Inzwischen ist es 19:00 Uhr. Ich bin erschöpft. Von weitem sehe ich Bäume direkt am Strand, aber es ist einfach zu weit weg – bis dahin schaffe ich es nicht mehr. Will es nicht mehr schaffen. Ich bin erschöpft. An einem Wohnmobilstellplatz halte ich an. Direkt am Strandabgang stehen im perfekten Abstand Bäume als hätten sie auf mich gewartet. Und so richte ich mich ein, mit den Ohren direkt am Meeresrauschen und mit meinem Blick auf etwa 30 Wohnmobile. ABER der Platz hat eine Dusche. Diese Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen und so sitze ich 20 min später frisch geduscht neben meiner Matte unterm Baum und koche mir Würstchengulasch mit Nudeln. Köstlich.
Ich mache die gleiche Erfahrung wie im vergangenen Jahr auf dem Campingplatz. Ich schlafe super, mit dem Wissen, dass da andere Menschen sind. Dass ich nicht allein bin. Interessiert schauen mir die Vancamper an meinem Platz zu. Ansprechen tun sie mich aber eher nicht – zu groß offensichtlich der ideologische Unterschied zwischen dem Campen in einem großen Wohnmobil und dem mit der Hängematte. Gerade will ich losgehen, als ich die erste andere Wanderin der letzten Tage treffe, sie hält kurz an, fragt seit wann ich unterwegs bin. Ich erzähle es ihr und frage interessiert bei ihr nach. Sie lässt mich für eine Weile sprachlos zurück. Sie ist einen Tag vor mir gestartet. Allerdings bei meinem Startpunkt des vergangenen Jahres. Ich nehme das für die nächsten Kilometer mit. Es dauert ein wenig, bis ich mich sortiert hab. Jeder Mensch in seinem eigenen Tempo Antje! Hör auf dich zu vergleichen! Du machst das grossartig. Aber es wird mir noch etliche Male begegnen in meinem Wanderdasein – dieses Vergleichen.
Morgens beim Kaffee auf meiner Decke hatte ich den Molly gehört, eine Schmalspurbahn, die zwischen Kühlungsborn und Bad Doberan verkehrt. Ich habe Lust mit dem Molly zu fahren und steige in Heiligendamm ein und genieße die offene Fahrt. Direkt nach Bad Doberan hinein – eine schöne Attraktion, wie ich finde. Ich mach ein paar Besorgungen und fahre die gleiche Strecke zurück und setze meine Wanderung in Heiligendamm fort. An alten Wachtürmen des Grenzschutzes als immerwährendes Mahnmal entlang komme ich zum Gespensterwald. Eines meiner Highlights dieser Tour. Unzählige Male hatte ich mir ausgemalt, wie ich dort unter alten Bäumen direkt an der Strandkante in meiner Hängematte übernachten würde. Aber so ist das manchmal eben mit Erwartungen. Manchmal sind sie so hoch, dass die Enttäuschung vorprogrammiert ist: die Frühjahrsstürme haben Schäden hinterlassen und an allen Bäumen hängen Warnschilder sich hier nicht aufzuhalten wegen der Gefahr herabfallender Äste. Ich schmolle, bin aber dennoch vernünftig und ziehe weiter.
Und so beginnt erneut der Kampf um die Suche nach einem Schlafplatz. Ich checke nochmal Google Maps und beschließe noch ein wenig durchzuhalten. Ich laufe weiter. Inzwischen ist Rostock-Warnemünde, mein Ziel für diese Tour, schon in Sichtweite. Ich steuere das Kap Stoltera an. Und tatsächlich! Unter alten Buchen, hoch oben auf der Kante der Steilküste finde ich den wirklich perfekt erscheinenden Übernachtungsplatz. Was ein Finale. Bei leckerem Couscoussalat schaue ich meinen letzten Sonnenuntergang für diese Tour an.
Später liege ich auf meiner Decke unterm Baum und schaue in den Abendhimmel. 4 Tage. Harte Tage. Sie haben mir viel abverlangt. Aber sie haben mir was ganz Wichtiges zurückgegeben. Meine Kraft und das Wissen, schaffen zu können, was ich mir vornehme. Ich werde morgen nach Warnemünde hineinlaufen und den Plan beschlossen haben, dass ich die Alpen überqueren werde. In diesem Jahr. In 3 Monaten. Ich schaff das. Aber das weiß ich in diesem Moment unter der alten Buche an der Steilküste noch nicht. Mit dem unglaublichsten Blick überhaupt wache ich auf. Die Sonne scheint, die Ostsee liegt still vor mir. Der Strand weit unter mir. Ich kann alles überblicken. Ich spüre tiefe Zufriedenheit. Was für ein Glückspilz ich bin.
Ich gehe hinunter zum Strand, es werden die letzten stillen Momente sein. Warnemünde ist wuselig, eine Touristenhochburg mit all ihren Vorzügen. Ich möchte das nicht madig machen. Ich werde genau diese Vorzüge später genießen. Aber jetzt sauge ich die Stille hier in mich auf. Unten auf dem Strand angekommen zieht es meinen Blick nach oben und ich erschrecke mich. Ich spüre direkt ein großes schlechtes Gewissen in mir aufsteigen. Ich, die gern mal den Zeigefinger erhebt, was den Umgang mit unserer Natur betrifft, habe sie heute Nacht mit Füßen getreten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Abbruchkante der Steilküste ist fragil, mal abgesehen, dass ich mich selbst in Gefahr gebracht habe dort oben an der Kante ist es einfach, das muss ich ehrlich zugeben, absolut verantwortungslos von mir gewesen diese schützenswerte Natur durch meine Übernachtung dort direkt an der Kante weiter zu gefährden.
Ich klettere wieder nach oben und packe zusammen. Es fällt mir schwer mich zu verabschieden von diesem besonderen Platz und von dieser Tour. Ich schultere meinen Rucksack, der inzwischen übrigens perfekt gepackt ist und muss weinen. Die Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich denke darüber nach, wie es sich erst anfühlen muss, wann man richtig lange unterwegs ist auf einer Weitwanderung. Nach einem Monat oder noch viel länger. Obwohl ich es mir schwer vorstelle, entwickelt sich eine tiefe Sehnsucht danach genau diese Erfahrung zu machen. Geduld Antje. Auch diese Zeit wird kommen. Ich spare in einem Langzeitarbeitskonto Zeit an um mir irgendwann genau diesen Wunsch erfüllen zu können. Zeit zu haben…
Der Trubel erfasst mich schnell und ich freue mich die letzten 3 km darauf tatsächlich ins Ziel zu laufen. Der alte Leuchtturm in Warnemünde ist mein erklärtes Ziel. Erst mache ich nur ein Selfie, doch dann bitte ich jemanden ein wirkliches Zielfoto von mir zu machen. Es fühlt sich großartig an.
Ich mache mich auf den Weg zum Hotel Bellevue. Dort habe ich mir ein Zimmer für die Nacht reserviert. Aber noch besser ist: dort wartet ein Päckchen auf mich. Das habe ich mir inzwischen angewöhnt. Wann immer ich irgendwohin wandere, schicke ich mir vorher Päckchen. Mir macht es wirklich gar nichts aus tagelang ungeduscht zu sein oder in den gleichen Klamotten zu stecken. Aber nichts fühlt sich besser an, als im Hotel mein Päckchen vorzufinden mit persönlichen Dingen und nach der Dusche einen frischen Schlüppi aus meinem Päckchen anzuziehen. Zurück in meinen Alltagsklamotten gehe ich nochmal aus.
Ich möchte zum alten Strom. Ich freu mich auf ein Glas Wein mit Blick auf die Fischbrötchenstände, an denen Touristen sich ihre Fischbrötchen von den frechen, lauten Möwen klauen lassen. Unterwegs kaufe ich eine Postkarte. Ich schicke sie an Familie Behnke, meine Rapsbauern vom Salzhaff.
Ich schreib Ihnen, dass ich gut angekommen bin…
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